Volksreligion, auf Englisch „Folk Religion“, hat zwei unterschiedliche Bedeutungen.
1. „Volksreligion" nannten die Europäer die Religionen der Völker außerhalb Europas, bevor die Europäer ihre Länder im Kolonialismus eroberten.
Damals glaubten viele Menschen in Europa, sie seien besser, klüger und mehr wert als alle anderen Menschen. Aus diesem Grund meinten sie auch, dass das, was andere Menschen glaubten, weniger wert sei als ihre eigene Religion, das Christentum.
Andere Religionen zu verstehen war ihnen nicht wichtig, darum suchten sie auch nicht nach Gemeinsamkeiten oder Unterschieden zwischen den Religionen. Sie legten einfach fest, dass die Menschen außerhalb Europas an Geister, Zauberei und abergläubische Rituale glaubten. Zum Teil gingen durch den Kolonialismus ursprüngliche Religionen verloren oder vermischten sich mit denen der Europäer. Andere gibt es noch heute.
Heute ist es das Ziel der Religionswissenschaft, alle Religionen gleichwertig zu betrachten und nicht über sie zu urteilen. Den Begriff „volkstümliche Religion“ lehnen die meisten ab und sprechen stattdessen von „ethnischen Religionen“. Damit meinen sie Religionen, die eng mit einem einzelnen Volk verbunden sind und gar nicht den Anspruch haben, alle Menschen zu erreichen.
2. Volksreligion ist der Name dafür, wenn viele Menschen einer Religion etwas glauben, das in der Lehre ihrer Religion aber eigentlich gar nicht vorkommt.
Ein Beispiel: Im Christentum gibt es viele Bräuche und Rituale aus anderen Religionen. Sie gehörten zum Leben von Menschen, schon bevor diese Christinnen und Christen wurden. Und diese Menschen brachten ihre Bräuche dann ins Christentum mit. Dazu gehören Ostereier, das Osterfeuer oder der Weihnachtsbaum. Auch das Halloweenfest aus Irland gehört dazu. Das Wort kommt vom Englischen „All Hallow’s E’en“ und bedeutet „Abend vor Allerheiligen“. Ursprünglich ist es mit einem älteren keltischen Geisterfest verwandt. Auch heute noch gibt es viele Christinnen und Christen, die Feste wie dieses nicht feiern möchten. Eben weil sie eine nicht-christliche Vorgeschichte haben.
Im Islam gibt es für solche neu hinzugekommenen Feste und Bräuche den Begriff „Bid’a“, was „Neuerung“ bedeutet. Damit ist alles gemeint, was nicht im Koran oder in den Überlieferungen steht, die Hadithe heißen. So sehen einige Menschen den Geburtstag des Propheten Muhammad „Mawlid an-Nabi“ als Neuerung. Denn es gibt keinen Hinweis in den Überlieferungen, dass Muhammad seinen Geburtstag wirklich gefeiert hat. Eingeführt wurde dieser Gedenktag erst viele Jahre nach der Entstehung des Islam, im 16. Jahrhundert in der Türkei.
Alle dürfen glauben, was sie wollen
In vielen Religionen entstanden so wie in diesen Beispielen neue Feste oder Bräuche. Geistliche und Führer der Religionen lehnten sie oft ab oder versuchten sie sogar zu bekämpfen.
Heute beschäftigt sich die Religionswissenschaft in allen Religionen mit solchen Bräuchen, die nicht zur offiziellen Glaubenslehre der jeweiligen Religion gehören. Sie wollen beschreiben und nicht bewerten, was Menschen in ihrem Glauben tatsächlich leben. Egal, was Gelehrte oder andere Menschen darüber denken oder sagen.
Manche Menschen benutzen das Wort „Volksreligion“, um den Glauben anderer Menschen abzuwerten und von „richtiger Religion“ zu unterscheiden. Eine „richtige Religion“ gibt es aber gar nicht. Jede und jeder darf glauben, was er oder sie möchte.